© Foto: La balada de las sirenas secas, 2020 (c) Patricia Domínguez
Songs for the Changing Seasons [Lieder für die wechselnden Jahreszeiten] vereint eine internationale Gruppe von Künstler*innen mit dem Ziel, sich Gedanken über die unzähligen konkreten und poetischen Möglichkeiten zu machen, mit denen sich Kunst mit der Realität, sowie den Auswirkungen und Konsequenzen der Transformation des Planeten Erde auseinandersetzt. Songs for the Changing Seasons thematisiert Formen von Liebe, Aufmerksamkeit, Wiederherstellung und Trauer, die sich mit ökologischen Herausforderungen und Umweltschäden auseinander setzen müssen. Unter der Annahme, dass der ökologische Wandel Realität ist, untersucht die Ausstellung, wo, wann und wie Probleme empfunden und ausgedrückt werden und inwiefern Kunst unverzichtbare Wege aufzeigt, diese Probleme zu artikulieren, zu interpretieren und zu bewältigen.
Die Erinnerung an die Welt wird von der Welt selbst bewahrt und in menschlichen und nicht- menschlichen Liedern nacherzählt. Auf welche Weise drückt sich der Wandel durch und mit den Körpern aller Lebewesen aus: Mensch, Tier, Pflanze und Mineral? Wie werden Trauer und Schmerz, aber auch Hoffnungen, Träume und Wünsche auf individueller und kollektiver Ebene erlebt, verarbeitet und imaginiert?
Geht die Welt unter, wenn eine Welt untergeht? Die Geschichte scheint darauf hinzudeuten, dass dies nicht der Fall ist: Welten enden, Welten beginnen wieder, und die Kultur kodiert die Signale vergangener Zeiten in die Zukunft: epische Gedichte, die die Erinnerung an große Umweltereignisse bewahren, Rituale, die langjährige Erkenntnisse aus der landwirtschaftlichen Praxis festhalten... Allerdings wird die Kontinuität der Welt notwendigerweise aus der Perspektive all jener erzählt, die Katastrophen, Konflikte oder Zusammenbrüche überdauert haben – während andere Erfahrungen systematisch zum Schweigen gebracht oder vergessen wurden.
Die Ausstellung reflektiert, wie ökologische Belange durch Kunst empfunden und behandelt wer- den, und konzentriert sich auf die Rhythmen, Wiederholungen und auch Enden, die die Ebbe und Flut unseres Planeten kennzeichnen.
—Filipa Ramos und Lucia Pietroiusti
Yussef Agbo-Ola/Olaniyi Studio. 12 Claws in Cloud Dust: Air Altar (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Der im ländlichen Virginia geborene Künstler und Medizinarchitekt Yussef Agbo-Ola ist Gründer und kreativer Leiter von Olaniyi Studio in London. Er stammt aus einer Familie mit nigerianischen, afroamerikanischen und Cherokee-Wurzeln. Agbo-Olas multidisziplinäre Praxis konzentriert sich auf die Interpretation natürlicher Energiesysteme durch interaktive Experimente, welche die Verbindungen zwischen dem Biologischen und dem Anthropologischen, dem Perzeptiven und dem Mikroskopischen erforschen. Er wendet verschiedene multidisziplinäre Forschungsmethoden und Designkomponenten an, um lokales Wissen und seine ökologische Bedeutung kulturübergreifend neu zu interpretieren. Seine Forschungsergebnisse manifestieren sich in architektonischen Pavillons, sowie in Materialalchemie, in interaktiven Performances, experimentellem Sounddesign oder konzeptuellem Schreiben.
Hier hat Yussef Agbo-Ola sein erstes Architektur-/Installations- Hybrid erschaffen, das für einen Außenbereich konzipiert wurde. 12 Claws in Cloud Dust [12 Krallen im Wolkenstaub] präsentiert die für Agbo-Ola charakteristische Gegenüberstellung eines metallenen Tragwerks mit maßgeschneidertem, gespanntem Stoff, der die Struktur ausfüllt. Der Stoff bildet eine Reihe von Insektenarten ab, die vom Aussterben bedroht sind. Die äußere Struktur fügt sich den Fenstern der Nordwestbahnhof-Halle ein und erzeugt so ein Schattenspiel, das die innere Atmosphäre des Environments moduliert. Agbo-Ola hat seine künstlerischen und architektonischen Interventionen häufig als Räume für Kontemplation oder Rituale bezeichnet – als Tempel der Reflexion über unsere Verstrickungen mit mehr-als- menschlichen Wesen. In Songs for the Changing Seasons stellt die Struktur eine Ode an die Möglichkeit von Bedauern und Regeneration dar; sodass sie, wenn sie die Besucher*innen bei ihrer Ankunft begrüßt, gleichzeitig auch als eine weihevolle Huldigung an Repräsentant*innen der erstaunlichen Vielfalt und Kreativität des Planeten fungiert.
Yussef Agbo-Ola/Olaniyi Studio
12 Claws in Cloud Dust: Air Altar (2024)
Textil, Stahlseil, Maße variabel
Cooking Sections. Salmon Feed Chains 2022 (c) Courtesy of the artists
Cooking Sections untersucht die Systeme, die die Welt durch Essen organisieren. Mit ortsspezifischen Installationen, Performances und Videos erforschen sie die sich überschneidenden Grenzen zwischen Kunst, Architektur, Ökologie und Geopolitik. Die 2013 von Daniel Fernández Pascual und Alon Schwabe in London gegründete Gruppe nutzt Nahrungsmittel als Linse und Werkzeug, um Landschaften im Wandel zu beobachten. Seit 2015 haben Cooking Sections CLIMAVORE entwickelt. Dieses forschungsorientierte Projekt, will durch künstlerische Interventionen die Möglichkeit zur Transformation von Ernährungssystemen, -politik, -infrastruktur und -kultur neu denken. In einer vom Klimawandel beeinträchtigten, stark industrialisierten Landschaft stellt CLIMAVORE eine Ernährungsweise dar, die sich von den herkömmlichen Bezeichnungen unterscheidet. Es handelt sich um eine adaptive Ernährungsweise, die die vorgelagerten Auswirkungen unseres Lebensmittelkonsums als Chance betrachtet, sich an aus dem Gleichgewicht gebrachte Jahreszeiten anzupassen, und regenerative und reparative Interventionen in die Nahrungskette einfügt. CLIMAVORE wurde auf der Isle of Skye in Schottland ins Leben gerufen, wo die industrielle Lachszucht verheerende Auswirkungen auf die lokalen Ökosysteme hat, angefangen bei Chemikalien, die ins Wasser gelangen, bis hin zur Art und Weise, wie künstliches Lachsfärbefutter alle Arten von Lachsen in Lachs verwandelt.
Salmon: Feed Chains [Lachs: Futterketten], lädt das Publikum ein, im Kreis zu laufen, um ein Audiostück zu erleben, das die unendliche, kreisförmige Bewegung von Zuchtlachsen nachbildet, deren Leben in einem kreisförmigen Käfig in verschmutzten Gewässern gefangen ist.
Cooking Sections
Salmon: Feed Chains (2022)
Performative Installation, 20 min.
Patricia Domínguez. La Balada de las Sirenas Secas (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Die in Puchuncaví, Chile, ansässige Künstlerin Patricia Domínguez ist eine Verteidigerin der Erde und Gründerin des Studio Vegetalista, einer experimentellen Plattform für ethnobotanische Forschung. Ihre Installationen in Form von Skulpturen, Videos und Publikationen zielen darauf ab, die Auswirkungen des Spätkapitalismus und der Umweltzerstörung aufzuzeigen und gleichzeitig das Potenzial der künstlerischen Imagination als Form der psychischen Emanzipation und als Weg zur Heilung kolonialer Traumata zu erforschen.
In Chile ist ein sehr großer Teil des Süßwassers privatisiert, was in Gebieten, die von der Avocado- und Zitrusfrucht-Agrarindustrie in Mitleidenschaft gezogen werden, zu einer humanitären Krise führt. La Balada de las Sirenas Secas [Die Ballade von den trockenen Meerjungfrauen] setzt sich mit der Krise der Wasserprivatisierung auseinander. Die Künstlerin arbeitete hierbei mit Rodrigo Mundaca, dem nationalen Sprecher der Bewegung zur Verteidigung des Zugangs zu Wasser, MODATIMA, zusammen. Außerdem mit „Las Viudas del Agua“ [die Witwen des Wassers], einer Gruppe von Frauen, die das Wasser in der Region Petorca verteidigt, sowie mit Juan López, einem „Sänger des Göttlichen“, der in einem der am stärksten von der Krise betroffenen Gebiete, Palquico, lebt, umgeben von Hunderten von Rindern, die verdurstet sind. Er hat das traditionelle Lied des Göttlichen modifiziert, um die Dürre und die Angst der Bäuer*innen zu betrauern.
Das Werk ist inspiriert vom Maya-Kodex Tro Cortesiano, der im Museo de las Américas in Madrid aufbewahrt wird. Es ist eine Geste der Aktivierung eines Objekts, das von einem westlichen Museum unter dem Vorwand einer veralteten kolonialen Logik festgehalten wird. Der Tro Cortesiano, einer der vier erhaltenen Maya-Codizes, dokumentiert Rituale der Wahrsagung und der Spekulation mit Wasser in Bezug auf Bepflanzungspläne. Das während der Pandemie gedrehte Video dokumentiert die Wasserhortungsbecken von Unternehmen. Es zeigt eine Avocado-Plantage, die abgeholzt wurde, um ihr Absterben während der Megadürre in der Region Petorca zu verhindern. Gleichzeitig rettet das Werk ein kulturelles Erbe der Gegend, indem es aktuelle Bilder der präkolumbianischen Felszeichnungen von El Pedrenal liefert, die an das Wasser in dem vertrockneten Fluss erinnern.
Patricia Domínguez
La Balada de las Sirenas Secas (2020)
Installation mit Styropor-Bergkaskade, Fiberglas,
elektrischem Wasserkreislauf,
LED-Anzug mit Meerjungfrauenschwänzen,
3D-gedruckten Skulpturen, holografischen Projektionen,
Video auf Monitor, 31:54 min
Mit Genehmigung von TBA21 Thyssen-Bornemisza
Art Contemporary Collection
Eva Fàbregas. Exudates (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Die in Barcelona geborene und lebende Künstlerin Eva Fàbregas arbeitet mit weichen und formbaren Materialien und beschäftigt sich mit taktilem Engagement, körperlicher Intimität, sinnlicher Beziehung und vielfältigen Formen des somatischen Experimentierens mit und durch Objekte. Sie betrachtet den Tastsinn als primäre Quelle des Wissens. Ihre Arbeit bewegt sich im Bereich des Somatischen, des Erfahrbaren, des Bauchgefühlsund des Unbenennbaren. Ihr Ziel ist es, die Welt der Sinne vollständig zu bewohnen, in dem sie eine vorsprachliche Phase heraufbeschwört, um sich andere mögliche Körper, andere Arten des Fühlens, der Fürsorge und des Seins in der Weltvorzustellen.
Exudates, ihre neue Werkserie stellt einen neuen Schritt in der fortlaufenden Beschäftigung der Künstlerin mit haptischen Visionen und Formen sensorischer Begegnungen dar. Mit Lila-, Braun-, Rost- und Kupfertönen präsentieren sich ihre Skulpturen in dunkleren, aber immer noch körperlichen Farben. Sie sind jetzt runzlig, zeigen kleine und große Falten, die an die Art und Weise erinnern, wie Haut und Organe auf Spannung und Entspannung reagieren. In Form von unterschiedlichen Sets installiert, die im Raum des Nordwestbahnhofs verteilt sind, tauchen die Strukturen im gesamten Ausstellungsraum immer wieder auf. Exudates bilden eine Vielzahl von körperlichen Entitäten, bei denen das Menschliche, das Nicht-Menschliche und das Posthuman die eigenen Grenzen, Definitionen und Formen in Frage stellen.
Ermöglicht durch die Unterstützung von Acción Cultural Española (AC/E).
Eva Fàbregas
Exudates (2024)
Luft, Latex, elastisches Gewebe, aufblasbare
Bälle, variable Abmessungen
Sofia Jernberg (c) Jon Edergren
Sofia Jernberg, ist eine experimentelle Sängerin und Komponistin, die in Äthiopien geboren wurde und in Stockholm lebt. Ihre Arbeit konzentriert sich auf unkonventionelle Techniken und Klänge wie nonverbale Vokalisierung, gespaltene Töne, tonlosen Gesang und Verzerrung. Sie hat mehrere Kompositionsaufträge erhalten und kürzlich Dreams of our future für Kinderchor, Sopran, Stimme und Kammerensemble beim Ultima Festival Oslo 2022 und eine neue Komposition für das Ensemble Contrechamps beim Borealis Festival 2023 in Bergen uraufgeführt.
Die Soundinstallation Songs for the Changing Seasons, die für die Ausstellung konzipiert wurde, bringt in einem klanglichen Dialog zwischen menschlichen und tierischen Geräuschen zum Ausdruck, wie sich die menschliche Präsenz auf der Erde durchsetzt. Das Stück endet mit einem fast unmenschlichen Ton, einem durchdringend hohen Pfeifton, der in einer Höhle nahe des Ozeans erklingt, wo Wasser von der Decke tropft und der Wind und die Wellen des Ozeans zu hören sind.
Sofia Jernberg
Songs for the Changing Seasons (2024)
Soundinstallation, 20 Min.
Joan Jonas. They come to us without a word II (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Seit über fünf Jahrzehnten trägt die in New York geborene und lebende Künstlerin Joan Jonas dazu bei, die zeitgenössische Kunst in ihrer disziplinären Elastizität zu definieren. Durch ihre Performances (oft unter Einbeziehung ihrer eigenen Person), Zeichnungen (meistens von Tieren), Skulpturen (oft mit abstrakten, geometrischen Bezügen), Environments und Videoinstallationen (die auch Objekte, Requisiten und komplexe Ausstellungssysteme umfassen), sorgt die Künstlerin dafür, dass die Trennlinien zwischen Video und Zeichnung, Geste und Tanz, Lied und Mythos, Geschichtsschreibung und Erzählung verschwimmen. Ihr Interesse an der Natur hat sie zu einer wichtigen Stimme in unseren Zeiten der ökologischen Unruhe gemacht.
they came to us without a word II [Sie kamen wortlos zu uns II] entstand ursprünglich für die gleichnamige Ausstellung, die 2013 im Centre for Contemporary Art Kitakyushu in Japan zu sehen war. Die umfangreiche Serie von blauen Fischzeichnungen feiert diese Kreaturen und spielt gleichzeitig darauf an, dass die Ozeane des Lebens, das sie fördern, beraubt werden. Die Ausstellung im CCA Kitakyushu war das erste Mal, dass Jonas ihre Sorge um den gefährdeten Zustand der Ozeane öffentlich in ihre Arbeit einbezog. Bei dieser Gelegenheit fertigte sie eine Serie von über 100 Fischzeichnungen an, inspiriert von Toshiji Kamoharas Buch Coloured Illustrations of the Fishes in Japan (1955), das sie in einem Second-Hand-Laden gefunden hatte. Diese Fische, so argumentierte sie, stünden auch symbolisch für den übermäßigen Fischkonsum in Japan und der Welt. Diese Art von Sorgen werden sichtbar in der Art und Weise, wie jeder Fisch ganz individuell abgebildet ist, mit einzigartigen Merkmalen, was ein Zeugnis ist von Jonas’ herausragender Methode, Tiere zu zeichnen und zu malen. Die Fragilität und Beweglichkeit der Papierbögen, auf denen jeder Fisch gemalt ist, drückt nicht nur seine Individualität, sondern auch seine Verletzlichkeit aus. Präsentiert als großer zweidimensionaler Fischschwarm, der aus parallelen Reihen von Fischzeichnungen zusammengesetzt ist, vermittelt die Assemblage ein Gefühl von poetischem Wohlstand, während sie zugleich die Überfischung der Meere betrauert und beklagt.
Joan Jonas
they come to us without a word II (2013–23)
68 Ausstellungsexemplare von Tuschezeichnungen
auf Papier, Maße variable
Dominique Knowles. Morning Pasture (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Der auf den Bahamas geborene und in Paris lebende Künstler Dominique Knowles schafft großformatige Farbfeldarbeiten, die zwischen Abstraktion und Figuration oszillieren und verschiedene Genres zu einer poetischen Konfiguration aus Licht und Schatten verbinden. Seit seiner Kindheit ein leidenschaftlicher Reiter, schafft er intime und ethische Lebensräume für seine Tiere. Der Prozess ist für den Künstler eine Meditation, und er vergleicht die Geste des Markierens mit der des Bürstens eines Pferdes beim Striegeln. Dominique arbeitet mit dem Licht, das die Figur enthüllt oder verbirgt, denn er ist in einem Land aufgewachsen, in dem das Licht sowohl funkelt als auch die tiefsten Schwarztöne hervorbringt.
Dominique Knowles’ großes Ölgemälde auf Leinwand, Morning Pasture, lässt die Betrachter*innen in der Zeit zurück und nach vorne reisen: Spuren der ersten jemals geschaffenen Landschaften stellen eine Beziehung zu den post-anthropogenen Gebieten der heutigen gestörten Zeiten her. Die Landschaft erscheint als eine Reihe von abstrakten, miteinander verflochtenen Massen, die in sich selbst flexibel und gefaltet sind und auf poetische Weise auf die Rhythmen und Flüsse der gemeinsamen Erschaffung der natürlichen Welt anspielen, die mit Knowles’ eigenen Worten widerhallen: „Ich sehne mich nach der Chance, mich mit neuen Erinnerungen an queere Sinnlichkeit neu auszurichten [...] Ich bin ein Zentaur, fruchtbar mit einem anderen Geschöpf.“
Lin May Saeed. Sea Dragon Relief (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
„Ich bin eine Bildhauerin, die sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier auseinandersetzt. Meine Haltung in Bezug auf dieses Thema beeinflusst meine künstlerische Praxis, die im Kern konzeptionell ist. Meine Arbeitsweise im Atelier ist überwiegend affektiv und prozessorientiert. Von Anfang an wurde ich durch Gespräche mit Tierrechtsaktivist*innen, durch die Auseinandersetzung mit der Literatur zu Tierrechten und durch aktuelle Debatten zu diesem Thema beeinflusst. [...] Während meines Studiums entdeckte ich Styropor als Material für meine künstlerische Praxis. Die Tatsache, dass Styropor ein vom Menschen (hergestellter), kunststoffbasierter Werkstoff ist, schien mir sinnvoll zu sein, weil es etwas über die Gegen- wart aussagt. Da ich figurativ arbeite, war es wichtig, dass die Werke lebensgroß sind, damit der Betrachter auf Augenhöhe mit einer Tier- oder Menschengestalt ist. Das geringe Gewicht des Materials ermöglicht die Arbeit in größerem Maßstab. Etwa die Hälfte des Materials, das ich verwende, bekomme ich von Baustellen oder aus Restbeständen. [...] Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich gerne mit Styropor arbeite. Die meisten Tiere haben Fell, Federn, Schuppen oder ein Exoskelett, und dies skulptural darzustellen ist eine Herausforderung. Jedes Lebewesen ist fast ständig in Bewegung, und Bewegungsunschärfe und Lebendigkeit gehören zusammen. Beim Arbeiten mit Styropor entsteht aufgrund der Materialität ebenfalls eine Unschärfe. Styropor ist zuallererst ein Blockmaterial und besteht bei genauerem Hinsehen aus einer kleinsten sichtbaren Einheit, nämlich aus kleinen Kugeln. Die Tatsache, dass das bloße Auge die kleinste Einheit sehen kann, hat eine poetische Qualität. Ich stelle mir gerne vor, dass es sich um Atome handelt. Ich suche nach dem produktiven Zusammenspiel dieser beiden Unschärfen, der Körnigkeit des Materials und den Lebewesen, die daraus entstehen. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Ich verstehe meine Arbeiten nicht als Objekte, sondern als Subjekte.“ – Lin May Saeed
Mit einer konsistenten Formensprache, einer tiefgründigen ethischen Haltung, einem breiten Wissen über Fabeln und Geschichte und mit Humor erzählt das Werk der verstorbenen deutschen Künstlerin Lin May Saeed von der Unterwerfung und Befreiung von Tieren und schafft so eine neue Ikonographie der Solidarität zwischen Spezies.
LinMaySaeed
Bee Relief/The Liberation of Animals
from their Cages VII (2008)
Styropor, Acrylfarbe, Stahl, Transparentpapier,
Holz, 108×143,5×18,5 cm
Sea Dragon Relief (2021)
Styropor, Stahl, Acrylfarbe, Holz, 173×268×51,5 cm
Mit Genehmigung von Collection Silvia Fiorucci, Monaco
Natalia Montoya. Ajayu (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Natalia Montoya lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt Iquique, wo sie geboren wurde, und in Santiago de Chile. Aus Familientradition ist sie eine Pilgerin nach La Tirana. Ihre Arbeit entwickelt sich aus materiellen Überlegungen, indem sie ihre emotionalen Bindungen zu den Gegenden von Iquique und der Stadt La Tirana hinterfragt. Von dort bezieht sie Materialien, die mit ihrer Vorstellungskraft verbunden sind, wie Stoffe, Pailletten und leichte Materialien.
Für ihre erste Ausstellung außerhalb Chiles präsentiert Montoya Ajayu, ein Wort, das in der Aymara-Sprache Seele oder Geist bedeutet und von Aymara-Gemeinschaften in den bolivianischen, peruanischen und chilenischen Anden gesprochen wird. Ajayu ist das Ergebnis eines kurzen Aufenthalts in Wien in Zusammenarbeit mit der örtlichen Bäckerei Ströck. Die feierlichen und spirituellen Formen, die Montoya aus Brot schuf, vereinen die Anden-Grabtechnik des T’anta wawa (kleine dekorierte, menschenähnliche Brotskulpturen) mit alten Praktiken und der Vorstellungswelt der Alpenregionen. Inmitten dieser Figuren wird sie auch in Aymara den Satz Waranka Waranka Kujtasiñani (Wir werden in Millionen zurückkehren) schreiben, der bis heute als Leitsatz im Kampf der Andenbevölkerung um ihre Rechte fungiert.
Natalia Montoya
Ajayu (2024)
Mehlteig, Blumen, Lebensmittelfarbe, Holzplatte,
PVC-Bodenbelag, Maße variabel
Thao Nguyen Phan. Becoming Alluvium & Ode to the Margins (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Thao Nguyen Phan wurde in Ho-Chi-Minh-Stadt geboren, wo sie auch heute noch lebt. Sie ist Multimediakünstlerin und arbeitet in den Bereichen Video, Malerei und Installation. Ausgehend von Literatur, Philosophie und dem alltäglichen Leben beobachtet Phan ambivalente Themen in sozialen Konventionen, der Natur und der Geschichte, die sie durch Zeichnen, Geschichtenerzählen und die Schaffung und Ausstellung von gefundenen und geschaffenen Objekten vermittelt.
Becoming Alluvium ist ein Bewegtbild–wie die Künstlerin all ihre filmischen Arbeiten bezeichnet – das die natur-kulturelle Geschichte des Mekong-Flusses anhand von Erinnerungen, Legenden und Darstellungen erzählt. Darin verwebt die Künstlerin Fakten und Fiktionen, Dokumentationen und Porträts, Ökologie und Mythologie, Materialien und Erzählungen, die sich mit dem menschlichen Leben und dem Leben in der Wildnis befassen, um auf den Kontext ihrer Heimat Vietnam einzugehen und gleichzeitig größere Systeme und Ökosysteme zu verweisen. Becoming Alluvium ist in drei Kapitel unterteilt und erzählt Episoden von Zerstörung, Reinkarnation und Erneuerung, die sich im und um den Mekong-Fluss und dem Leben, das er ermöglicht, abspielen. Begleitend dazu hat sie Ode to the Margins ein eigens in Auftrag gegebenes, von Hand erstelltes Werk geschaffen, das auf die gesellschaftliche, politische und natur-kulturelle Situation des zentralen Hochlands Vietnams reagiert. Der Bambuskranz wurde ursprünglich als Weihnachtsschmuck im Dom St. Marien in der Provinz Kon Tum, im zentralen Hochland Vietnams, hergestellt. Der Dom wurde vollständig aus Holz in einem Stilmix aus Gotik und lokaler Bauweise errichtet und 1818 fertiggestellt. Seit ihrer Einweihung ist die Kirche die wichtigste Kultstätte für die indigene Gemeinde der Bana und verschiedene ethnische Gruppen der Region. In der Galerie wird der Bambusfaden als Wandbild aufgehängt, was darauf hindeutet, wie lokales Material wie Bambus und indigenes Kunsthandwerk, die ursprünglich für heidnische Rituale und traditionelle Zeremonien verwendet wurden, übernommen und in eine neue Sprache zur Unterstützung des neuen Glaubens übersetzt wurden.
Thao Nguyen Phan
Becoming Alluvium (2019)
Video HD, 16:40 min.
Produziert von der Han Nefkens Stiftung
Ode to the Margins (2024)
Bambuskranz, Glöckchen, variable Maße
Studio Ossidiana. The City of Birds (c) Rudolf Strobl / Klima Biennale Wien
Studio
Ossidiana, das 2015 gegründet wurde, ist ein Architektur- und
Designbüro mit Sitz in Rotterdam, das sich mit Materialien,
Gebäuden, Installationen und Objekten beschäftigt.
Ihre Installation The City of Birds kombiniert Interpretationen existierender Architektur-typen und -werkzeuge – Taubenschläge, Fledermaustürme, Volieren, Papageienstangen, Futterhäuschen und Fallen – mit Vorschlägen für neue Objekte und Räume der Vermittlung. Die Sammlung von Modellen befasst sich mit der komplexen, widersprüchlichen Beziehung, die wir zu anderen Tieren unterhalten, und mit der Bedeutung kontextueller, sentimentaler und ästhetischer Maßstäbe, die mit jeglichem quantitativen Verständnis unserer Beziehung zur Umwelt einhergehen. Ziel ist es, einen Gradienten der Beziehung zwischen Körpern und Arten zum Ausdruck zu bringen: Während sich der Käfig vom Zärtlichen hin zum Zwanghaften, vom Ironischen hin zum Dramatischen, vom Metaphorischen hin zum Wärmezustand ausdehnt, erkennt Ossidiana, wie sich Gewohnheiten in Lebensräume und Handlungen in Rituale verwandeln, wie irdische Praktiken zu Metaphern und Formen der Kommunikation werden, deren physisches Vokabular der „Käfig“ ist.
Studio Ossidiana
The City of Birds (2020–21)
Modelle, Beschichtetes Aluminium, MDF-Platten,
Stahl, Maße variabel
Laure Prouvost. Flying Mother (The Bird Ban Her) Part 2, 2022 (c) courtesy Moody Art Center, Texas & Anthony Rathbun
Sprache – im weitesten Sinne – durchdringt die Video-, Sound-, Installations- und Performancearbeiten von Laure Prouvost. Bekannt für ihre immersiven und medienübergreifenden Installationen, die Film und Installation auf humorvolle und eigenwillige Weise verbinden, thematisiert Prouvost in ihren Arbeiten Missverständnisse und Ideen, die in der Übersetzung verloren gehen. Prouvost ist daran interessiert, lineare Erzählungen und erwartete Assoziationen zwischen Wörtern, Bildern und Bedeutungen zu durchkreuzen. Sie kombiniert existierende und imaginierte persönliche Erinnerungen mit künstlerischen und literarischen Referenzen, um komplexe Filminstallationen zu schaffen, die den Unterschied zwischen Fiktion und Realität verwischen. Sie wurde in Frankreich geboren und lebt in Brüssel.
Der große Wollteppich mit handgenähten Einzelfäden Flying Mother (The Bird Ban Her) [Fliegende Mutter (Der Vogel verbietet sie)] verbindet Vogelzug, Luft und Schwerelosigkeit mit einem Ge- fühl von Fürsorge und sinnlicher und archetypischer Weiblichkeit. Das Werk führt die Besucher*in entlang einer friesartigen Erzählung und zeigt dabei Kontinuität statt Trennung zwischen Mensch und Nicht-Mensch, was darauf hindeutet, dass Kommunikation, Hingabe und Verantwortung den Möglichkeiten der symbolischen Sprache vorausgehen und sie übertreffen. Da jedoch die Routen der Zugvögel durch die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels zunehmend gestört werden, breitet sich eine Melancholie aus, wenn wir uns von den Worten „die meisten Vögel reisen allein“ verabschieden.
Laure Prouvost
Flying Mother (The Bird Ban Her) Part 2 (2022)
Woll-Wandteppich, 1300×220 cm
The End of Imagination, 2021 (c) Adrián Villar Rojas
Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie und die weltweiten Lockdowns begannen Adrián Villar Rojas und seine Mitarbeiter im Jahr 2020, Videoaufnahmen von frei zugänglichen Webcam in der ganzen Welt aufzuzeichnen und zu speichern. Anschließend stellten sie mühsam die Klanglandschaften jedes einzelnen Videos nach. The End of Imagination ist der Film, der aus dieser kollektiven Unternehmung hervorging und sich fast ausschließlich auf Kameras konzentriert, die gleichgültige Tiere in Gefangenschaft einfangen. Durch diese vermittelte Perspektive auf nicht-menschliches Leben inmitten einer sehr menschlichen globalen Krise markiert der Film einen Moment in der Geschichte, der die Gegenwart und unser Verhältnis zu Vernetzung, Gemeinschaft und dem Planeten insgesamt tiefgreifend verändert hat. Da die erfahrungsbasierte Erinnerung im populären Bewusstsein möglicherweise allzu schnell verblasst, beschloss Villar Rojas, den Film und alle seine nachfolgenden Projekte The End of Imagination zu nennen.
Unter demselben Titel, The End of Imagination, ist Adrián Villar Rojas’ allererstes Comic-Projekt erschienen. Es steht in Beziehung zum Film The End of Imagination als eine Art Fortsetzung und reflektiert gleichzeitig die Zirkulation und Weitergabe von kunsthistorischen Büchern in Villar Rojas’ Heimatland Argentinien und deren Abhängigkeit von westlichen Erzählweisen und pädagogischen Methoden. Zugleich ist das Werk eine Feier des Umstands, dass die Urheberrechte an Micky Mouse und Minnie Mouse ausgelaufen sind.
Adrián Villar Rojas entwirft langfristige Projekte, die kollektiv und in Zusammenarbeit entstehen und die Form von groß angelegten und ortsspezifischen Environments annehmen. In seinen Forschungen und Weltentwürfen, die Skulptur, Zeichnung, Video, Literatur und performative Spuren verbinden, bringt Villar Rojas die menschliche und die übermenschliche Welt zusammen und untersucht die Fragilität und Vergänglichkeit der menschlichen Zivilisation.
Öffnungszeiten:
Mi – Fr: 12 – 20h
Sa – So: 10 – 18h
Abweichende Öffnungszeiten in der Eröffnungswoche (06.04. – 14. 04.):
täglich 10 – 20h